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umschau im netz • april 2023


 

 

 

«wir müssen alles ändern, damit vieles bleibt, wie es ist.»

Harald Welzer, Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, Fischer, Frankfurt am Main 2020.

Warum ein Buch über Gesellschaftsutopie im Rahmen von Lehrer:innenbildung zur Lektüre empfehlen? Weil ich die Grundzüge der Gesellschaft, die Welzer in seinem Buch Alles könnte anders sein nachzeichnet, auch in meinem Mikrokosmos an der Atelierschule beobachte.

«Der moderne Gesellschaft insgesamt scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist. Sie hat keinen Wunschhorizont mehr, sondern ihre Zukunft offenbar schon hinter sich.» Keine Zukunft zu haben, weil sie schon Vergangenheit ist, ist dann auch nicht etwas, was gute Laune macht. So erlebe ich dann auch häufig die Grundstimmung in diversen Konferenzen der Lehrer:innen.

Demokratie kann nur unter der Voraussetzung funktionieren, so Welzer, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sich selbst und den anderen gegenüber Vertrauen haben und Verantwortung übernehmen. Sie müssen das sichere Gefühl haben, dass sie Teil von etwas sind, von dem die anderen auch ein Teil sind. Konkret wirkt sich das in der Gesellschaft durch eine hohe Beteiligung an Veranstaltungen, Vereinen, Parteien oder der Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten aus. Wo stehen wir in unseren Schulen bezüglich solch ehrenamtlicher Tätigkeiten? Ich beobachte die Schulen seit nunmehr über 25 Jahren und stelle fest, dass gerade hier ein grosser Rückgang zu verzeichnen ist. Bei der Teilhabe der Elternschaft am Gesamten bis hin zum einfachen Besuch von Veranstaltungen unserer Schule durch das Lehrerkollegium. Die grosse Integrationsleistung für den Einzelnen und die Gemeinschaft, die sich aus der Identifikation mit dem Ganzen ergibt, ist im Begriff zu zerfallen. Diese Tatsache nicht bewusst zu ergreifen und zu behandeln, halte ich für problematisch.

Zudem haben wir in der Bewegung der Steinerschulen oft ein gestörtes Verhältnis zur Zukunft. Die Schulbewegung war bis in 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts eine wachsende Bewegung, die in Bildungsfragen hohes Ansehen genoss. Dann trat die Stagnation ein und mittlerweile ein langsamer Rückgang. Zukunft ist keine blühende Verheissung mehr, sondern Einrichten im Nischendasein. Perspektiven einer offenen Zukünftigkeit sind knapp. Dazu kommt, dass in der Vergangenheit nur wenig in Schulentwicklungen investiert wurde. Fehlende Innovation und das Umgehen von Problemstellungen führen zu Innovationssstau, bei gleichzeitiger Abnahme von menschlichen und finanziellen Ressourcen. In der Folge sind Lösungsstrategien für Problemstellungen meist kleinformatig gedacht und selten nachhaltig. Ganz im Stil von «gerne so weiter wie bisher», um den Einbruch von Zukunft zu verhindern. Da herrscht zu viel trübes Erneuerungspotential mit wenig Lust und Mut auf Zukunft.

Welzer kommt in seinem Buch zum Schluss, dass wir die Produktivkraft des Träumens ruiniert haben und er fühlt sich aufgefordert, der kommenden Generation eine aussichtsreiche Zukunft zu bieten. Sein Vorschlag zur Zukünftigkeit leitet sich nicht aus der Not oder dem Zwang ab, sondern aus der produktiven Fähigkeit zum Wandel. Da ist man in der individuellen Verantwortung angekommen. «Der einzige Grund, aus dem ein Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt nicht attraktiv sein sollte, ist die Fantasielosigkeit. Die allerdings ist in jeder Hinsicht auf dem Vormarsch, weshalb die Wiedereinführung der Zukunft eine dringliche Sache ist, des guten, des besseren Lebens wegen.»

 Harald Welzer bei Fischer

 


 

«hinter dem kopflosen scrollen steckt meist ein anderes bedürfnis»

Anna Miller, Verbunden. Wie du in digitalen Zeiten wieder Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind, Ullstein, Berlin 2023.

Die Einsamkeit entwickelt sich zur grossen Zeitkrankheit. In seinem Buch Einsamkeit. Die unbekannte Krankheit, betont der Gehirnforscher Manfred Spitzer, dass Einsamkeit das größte Lebensrisiko darstellt. Der Mensch hat das tiefe Bedürfnis nach Verbundenheit. Nicht umsonst gilt Einsamkeit als eines der schlimmsten Gefühle des Menschen. Anna Miller sieht den Medienkonsum als Ausdruck einer Sehnsucht nach echter innerer Verbundenheit, durch den wir uns zugleich von allem entfremden und unverbindlich durch die Welt gehen. «Ich kann das alles nicht auf die Digitalisierung schieben. Sie ist nicht das Problem an sich. Sie ist bloß das Vergrösserungsglas in unsere Seele. Ein Multiplikator für unsere Sehnsüchte, Ängste und Marotten. Ein Speicher für alle unsere Erinnerungen und eine Projektionsfläche für unsere Wut, Trauer, unsere Freude. Wollen wir lernen, mit dem Digitalen in unserem Leben umzugehen, es achtsam einzusetzen, es nachhaltig einzusetzen, müssen wir den Mut haben, uns uns selbst zu stellen. Es reicht nicht, alle paar Monate in die Berge zu fahren und dort mein Smartphone abstellen.» Positive Verletzlichkeit ist der Schlüssel zur echten Verbundenheit, weil Verletzlichkeit am Ende den Mut bedeutet, sich zu zeigen und sich einzulassen.

 Anna Miller: Verbunden

 


 

«jede von liebe getragene handlung ist kreativ»

Kae Tempest, Verbundensein, Suhrkamp, Berlin 2021.

Die Lyrikerin und Rapperin Kae Tempest erzählt in ihrem Buch Verbundensein von der gleichen Sehnsucht und Kraft wie Miller. Aus Mitgefühl und einer schöpferischen Verbindung mit sich und der Welt entstehen Wege in die Zukunft. In ihrem Essay erzählt sie von Ängsten, Rauschzuständen und dem Wunsch nach Anerkennung. Dabei fragt sie nach dem richtigen Leben und wie man seinen Selbstwert in einer auf Gewinn ausgerichteten Welt erkennen kann. Sie plädiert für mehr Selbstsorge, Empathie und Gemeinsinn und findet Antworten in einer Politik des Mitgefühls und der schöpferischen Kraft. Kunst und Kultur können laut Tempest dabei helfen, Einsamkeit und Isolation zu überwinden und Verbundenheit mit uns selbst, unseren Nächsten und dem gesellschaftlichen Umfeld zu spüren. Das Buch ist berührend und inspirierend zu lesen.

 Kae Tempest

 Kae Tempest: Musikvideo Europe is lost

 


 

Redaktion