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 Buchhinweis


 

 

 

Robert Thomas

 

 

«waldorfpädagogik»

 

 


Die rauschenden Begriffe der pädagogischen Fachliteratur über Selbstoptimierung, Selbstwirksamkeit oder Selbstperfektionierung bergen die Gefahr einer Einseitigkeit und Selbstverblendung. Im 21. Jahrhundert ist nicht die persönliche, subjektive Entfaltung erstrebenswert, sondern die Erweckung der geistigen, kreativen Kräfte, die im Menschen schlummern; sie allein können Natur und Mensch versöhnen. Es geht um die Überwindung der egoistisch-persönlichen Gefühle des Menschen und insbesondere der Pädagogen.

Die Grundlagen einer modernen Pädagogik müssen stets das einzelne Kind, die Schülerin, den Schüler, die Jugendlichen als Werdende ins Zentrum stellen und die in ihnen vorhandenen Veranlagungen wahrnehmen sowie gezielt fördern. Aus empirisch wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass die Beziehung zwischen dem Unterrichtenden und seinen Schüler:innen ausschlaggebend ist für die Förderung der Lernprozesse. Nicht das Was (der Stoff) ist allein entscheidend, sondern das Wie (Transmission) schafft eine vertrauenswürdige und nachhaltige pädagogische Beziehung – das, was sich zwischen den Protagonisten abspielt, ist relevant und entwicklungsfördernd. Der Schüler braucht über eine längere Zeitspanne ein Klima der Zuverlässigkeit, Offenheit, Empathie, Wärme, Weltinteresse und Klarheit: eine Umgebung der Selbstlosigkeit. Rudolf Steiner beschreibt diesen Impuls als den guten Geist der Waldorfschule. Und dieser gute Geist ist – so Steiner – kein Abstraktum, sondern eine geistige Realität, die beschrieben werden kann.

  

Rudolf Steiner 1886 Wien

Rudolf Steiner, Wien, 1886.
Foto R. Pokorny. Bestand Rudolf Steiner Archiv, Dornach

 

Auf Einladung hielt Steiner 1923 an einer pädagogischen Tagung im englischen Ilkley eine Reihe von Vorträgen mit dem Titel «Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung» und fasste darin zusammen, was eine moderne Erziehungskunst charakterisiert: «Pädagogik ist, im Grunde genommen, aus Menschenerkenntnis heraus resultierende Liebe zum Menschen», eine Äusserung, die Tomáš Zdražil als Untertitel für seine Schrift über die Waldorfpädagogik gewählt hat. Hiermit ist das Wesen der Menschlichkeit, das Allgemein-Menschliche, gemeint. Eine geistige Realität kann Inspirationsquelle für die Handhabung der Pädagogik sein. Sie soll, wie Steiner meinte, nicht «intellektuell-gemütlich» verstanden werden; vielmehr soll sie eine praktische, individuelle Methode sein, die den Pädagogen befähigt, dasjenige, was im Menschen latent vorhanden ist, zu wecken. Schüler:innen und Lehrpersonen bilden immer eine einzigartige Gemeinschaft, die das ganze Leben so prägt, dass Überschusskräfte frei und Fähigkeiten gebildet werden, über sich selbst hinaus zu wachsen.

Es ist Zdražil in seinem 78 Seiten umfassenden Buch «Waldorfpädagogik» gelungen, dieses tiefgründige Motiv zu durchleuchten und darzustellen. Er beschreibt akribisch, sachlich und gut dokumentiert die Intentionen Steiners und bringt ihren Kern für die Pädagogik auf den Punkt. Es ist das Verdienst dieses Buches, dabei das Wesen eines spirituellen Christentums abseits der Dogmen und einer traditionalistischen Exegese einzubeziehen und zu charakterisieren.

Eine empfehlenswerte Lektüre zum Mitdenken und Mitfühlen für alle pädagogischen Akteure!

  

 

 

Tomáš Zdražil, Waldorfpädagogik. «…aus Menschenerkenntnis heraus resultierende Liebe zum Menschen…», Verlag am Goetheanum, Dornach 2021.

Auch in: Schulkreis. Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, Winter 2021, S. 30.

 


Robert Thomas • Dozent Lehrerbildung, Präsident Arbeitsgemeinschaft der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz und Liechtenstein.