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Henrik Löning

 

 

der neuen generation
entgegen

 

 

 

«Wir haben, aus dem vorigen Jahrhundert kommend, alle die Vorstellung, dass es irgendjemanden geben muss – den lieben Gott oder den Kaiser oder die Regierung –, der das in die Hand nimmt. Und das ist, glaube ich, eine Illusion. Das Wichtigste ist, dass die Menschen zuerst aufhören müssen, daran zu glauben, dass jemand anders es für sie macht. Das ist die allerwichtigste Veränderung.» – Gerald Hüther


 
In meiner nun mehr als 25-jährigen Tätigkeit als Lehrer habe ich das Jugendalter immer auch als einen von Labilität begleiteten Lebensabschnitt erlebt. Normal. Jugendlich sein heisst auch eine handfeste Identitätskrise zu durchleben. Als Jugendlicher sucht, probiert, entwirft und verwirft man Identitäten, die tragfähig, freudvoll und sinnstiftend sind. Seit einigen Jahren werden diese Identitätsversuche, diese «Labilitäten» aber zunehmend unsicherer bewältigt und gleiten über zu leichten bis zu schweren Störungen: Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen, Depression, Selbstverletzungen usw. Formen der Hochsensibiliät, des AD(h)S, des Autismus tauchen verstärkt auf. Die Individualität kann zunehmend schwerer ihr Leben ergreifen. Jugendliche mit therapeutischem Hintergrund werden zur Normalität. Es fehlt ihnen vermehrt an Lebenskraft. Damit meine ich, sein Leben vertrauensvoll anzugehen, in dem Glauben, die Zukunft bewältigen zu können. Die Kraft, eigene Ideale zu haben, und den Mut und die Freude, sie zu verwirklichen. In inspirierende, vertrauensvolle Menschenkreise eingebunden zu sein. Mit Lebenskraft meine ich, frei nach Henning Köhler: »Ich gestalte mich in die Welt für dich.» Und diese schöne Kraft der Verbundenheit, die die Kraft der Gestaltung und Selbstgestaltung mit einschliesst, scheint teilweise abzunehmen oder neue Formen anzunehmen.

 

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Die Atelierschule wird im kommenden Jahr 20 Jahre alt. Dazumal hatten wir ein Schulmodell entwickelt, dass die bestehende Oberstufe reformierte und neu auf die Bedürfnisse der Jugendlichen einging. Das war die Generation der Millenials, die sogenannte Generation Y. Seit einigen Jahren haben wir eine neue Generation in unseren Schulzimmern. Sie wird Gen Z genannt. Ihr werden verschiedene Eigenschaften zugeschrieben (vgl. u.a. Shell Jugendstudie, Gen-Z-Studien von Zenjob, Zeam und Link.). Ähnlich ist allen Beschreibungen, dass uns diese Generation besondere Fragen aufgibt.

Ich habe den Eindruck – und auch die Sorge –, dass Jugendliche dieser neuen Generation, die ich als sensibel, frei und wahrhaftig erlebe, oft in Not sind, da sie an Lebenskraft verlieren, ihnen Lebenskraft geraubt wird. Der Zugang zu ihren Lebensimpulsen geht ihnen leicht verloren. Wir sind als Pädagogen aufgefordert, dieser neuen Generation gerecht zu werden. Bei unserer Schulgründung vor 20 Jahren hat uns das Entwickeln von Schulmodellen geholfen. Unserer heutigen Schülerschaft wird es aus meiner Sicht nicht helfen, wenn wir nun die Schule mit einem neuen Schulkonzept erneuern. Unsere Schüler:innen brauchen mehr als frühere Generationen sich hinwendende, authentische Lehrpersonen, die sich ihrer Fragen mit tiefem Ernst annnehmen und ihren Unterricht, ihren Umgang, ihr Verhältnis mit den Schüler:innen daraus entwickeln. Die Lehrpersonen sind aufgefordert, einen schöpferischen, inspirierten und motivierten Kontakt zur Schülerschaft zu pflegen und bisher Erprobtes in Frage zu stellen. Es wird niemand anders für uns machen. Das erfordert Mut und eine Gemeinschaft, die stützt und fördert.
 
Im letzten Schuljahr habe ich meine langjährige Tätigkeit als Schulleiter abgegeben und möchte mich nun in den kommenden Jahren neben dem Unterricht im Bildnerischen Gestalten ganz diesen Themen widmen. Zum einen im Aufbau der neuen Stelle der Schüler:innen-Begleitung an der Schule. Ich hoffe, dass wir hier eine Möglichkeit schaffen, Schüler:innen in krisenhaften persönlichen Situationen Angebote an die Hand zu geben, die sie in ihrer Lebenskraft stärken. Zum anderen möchte ich mich für den Aufbau und die Ausgestaltung des Seminars Atelierschule engagieren, um einen Ort zu schaffen, an denen Lehrer:innen Impulse bekommen können und sich ermutigt fühlen, ihren eigenen pädagogischen Weg zu gehen. Einen Ort, an dem wir Kräfte entwickeln und pflegen, um den Schüler:innen in Zeiten tiefgreifenden Wandels zur Seite stehen zu können.

 

 

 

Auch in: Jahresheft 2022, Atelierschule Zürich, November 2022.


Henrik Löning • Lehrer für Bildnerisches Gestalten, Atelierschule Zürich. Leitung Seminar Atelierschule.