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Cornelius Bohlen

 

 

das rätsel mensch 

 

Zum pädagogischen Werk von Rudolf Steiner (1)

 

 

 

Unser ganzes Kunststück besteht darin, dass wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.

Goethe, Maximen und Reflexionen


 
 
I. Eine frühe geisteswissenschaftliche Ausführung Steiners zur Pädagogik von 1904
 
Was war Steiners früheste geisteswissenschaftliche Ausführung zur Pädagogik? Gab es solche ersten Äusserungen, bevor Steiner ab 1906 seine ersten theosophischen Vorträge über Erziehung hielt, die er dann zu seiner weithin bekannten Schrift Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft (1907) ausarbeitete? Natürlich hatte Steiner sich schon lange mit Pädagogik beschäftigt, hatte er doch als junger Student zuerst gründlich Naturwissenschaften für den Lehrerberuf studiert und später viele Jahre als Privatlehrer in Wien praktisch unterrichtet, wobei er bald durch sein philosophisches Interesse an den Grundfragen der Erkenntnistheorie und Ethik weit über die Einzelwissenschaften hinausgeführt wurde. Er hatte auch längst verschiedene kleinere Beiträge zum Bildungswesen und zur Pädagogik publiziert. Aber das kommt hier nicht in Betracht. Hier ist die Frage, ob es besondere frühe Äusserungen von Steiner als geistigem Lehrer gibt, der in seiner neuen Lebensphase etwa ab der Jahrhundertwende um 1900 begann, sein «mystisches», «theosophisches», und dann «anthroposophisches» Werk und Wirken aufzubauen, aus dem viel später nach dem Ersten Weltkrieg die Waldorfpädagogik entstehen sollte.

Der Beginn dieser neuen Phase ist eine wahre Crux für alle Betrachter von Steiners Leben und Werk. Vorher kennt man den philosophischen Schriftsteller und Intellektuellen, nachher den Forscher, der ungeahnte Dimensionen geistiger Wirklichkeiten und Schulungswege beschreibt. Aber handelt es sich dabei um eine neue Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität? Um Mystik, Esoterik oder sogar Religion? Oder um Phantasterei und Synkretismus? Die Urteile sind so verschieden wie die Betrachter, denn an dieser Frage scheiden sich die Geister je nach ihren eigenen Vorstellungen, Voraussetzungen und Weltbildern. Der norwegische Schriftsteller Kaj Skagen hat kürzlich lesenswert die typischen Modelle der Fehlbeurteilungen Steiners in dieser Beziehung dargestellt (1). Ein Modell ist das angeblich «anthroposophisch korrekte Heiligenbild». Demnach war Steiner schon seit seiner frühen Jugend eine Art Eingeweihter und das ganze Leben und Werk Steiners wird retrospektiv in dem etwas schwammigen Licht seiner späteren Rolle als geistiger Lehrer stilisiert. Das andere Modell ist dasjenige des gescheiterten Philosophen und Akademikers, der «anti-anthroposophische Groschenroman». Demnach war Steiner ein mehr oder weniger gescheiterter philosophischer Intellektueller und Aussenseiter, der dann aber als synkretistischer Verarbeiter oder sogar Plagiator spiritueller Traditionen Anklang beim bürgerlichen Publikum fand. In Wirklichkeit sind beide Modelle leicht zu widerlegende Konstruktionen, denen nur gemeinsam ist, dass sie Steiner nicht ganz gewöhnlich so behandeln, dass man sorgfältig sowohl die Einheit (Kontinuität) wie die Wandlungen (Diskontinuität) in seinem Werdegang und Gesamtwerk sucht. Tatsächlich gab es bei Steiner, wie jede ernstzunehmende Biografie zeigt, in den Berliner Jahren von etwa 1897 bis 1902 weder eine unverständliche Zäsur noch eine einmalige Bekehrung, sondern vielschichtige äussere und innere Entwicklungslinien, die Steiner selbst in seiner Autobiografie als eine langjährige Zeit der «Prüfung» im Anbruch des 20. Jahrhunderts beschrieben hat.

1904 jedenfalls, zur Zeit der frühen theosophischen Vortragsstelle über Erziehung, die hier in der Folge betrachtet wird, arbeitete Steiner mit voller Kraft daran, seine Form der Geisteswissenschaft aufzubauen, die sich damals Theosophie nannte, und er war zugleich noch als Lehrer an der nicht gerade theosophisch orientierten sozialistischen Arbeiterbildungsschule und in freigeistig gesinnten Kreisen der Berliner Moderne wie dem Giordano-Bruno-Bund tätig.


 
II. Die Selbstauslöschung der Persönlichkeit und ein Urmotiv aller Erziehung

Im Winter 1903/04 hielt Steiner seine erste öffentliche theosophische Vortragsreihe, wie sie von da an jährlich, meistens im Architektenhaus, stattfinden sollte. Und hier äusserte er sich erstmals ausführlicher im Sinne seiner Geisteswissenschaft über Erziehung im Rahmen von drei zusammenhängenden Vorträgen zur Seelenlehre. Nach einem weiten Flug ideengeschichtlicher Betrachtungen, warum der Mensch richtig nur als Wesen aus Körper, Seele und Geist zu erkennen ist, klingt der letzte von diesen drei Vorträgen am 30. März 1904 in eine kleine praktische Betrachtung eines hohen Erziehungsideals aus, das «alltäglich» vom Erziehenden anzustreben sei (2). Vor dem Erziehenden stehe immer ein ewiger geistiger Wesenskern in seiner gerade gegebenen seelischen und körperlichen Gestaltung. Will der Erziehende zur Entfaltung des heranwachsenden Menschen beitragen, so habe er ihn nicht nach seinen persönlichen Interessen zu formen. Er habe seine eigene Persönlichkeit «auszulöschen», um dem werdenden Menschen in seiner freien Entwicklung zu dienen. Nur diese «Auslöschung der eigenen Persönlichkeit» ermögliche die Hingabe, Wahrnehmung und furchtbare Erziehung des Kindes und Jugendlichen. Steiner betont, dass es gar nicht darauf ankomme, dass der Erziehende besonders theosophische Dogmen und Lehren kennt, sondern dass er in lebendiger Selbstschulung lernt, sein «eigensüchtiges» Selbst, seine persönlich und subjektiv gebundenen Vorstellungen, Neigungen, Gefühle oder Handlungsimpulse zurücktreten zu lassen, um die objektive Empfänglichkeit für das Geistige im zu Erziehenden und in der Welt zu stärken. Selbstverständlich ist das ein Ideal und wird auch von Steiner so dargestellt. Und selbstverständlich ist überhaupt nicht damit gemeint, dass Erziehende nicht ihre volle Persönlichkeit leben oder diese sogar schwächen, sondern sie um weitere Ebenen bereichern.

Wer sich dafür interessiert, was Steiner damals unter diesem Vorgang der Selbstauslöschung der Persönlichkeit genauer verstand, kann dies in seinem Aufsatz über «Das Märchen» von Goethe mit dem damaligen Titel Goethes geheime Offenbarung (1899) und im Abschnitt über den «Pfad der Erkenntnis» in Steiners Grundlagenwerk Theosophie (1904) erfahren.

Man könnte noch lange manche Einzelheiten und die Tiefe der hier kurz umschriebenen Ausführung Steiners zum Ideal der Erziehung betrachten. Nur ein weiterer Aspekt dieser Vortragsstelle, die in der Buchausgabe gerade einmal vier Seiten umfasst, soll hervorgehoben werden. Der zu erziehende Mensch mit seinem geistigen Kern, seiner Individualität, darin lässt Steiner seine damalige mündliche Ausführung ausklingen, stehe eigentlich wie ein staunensvolles «Rätsel» vor den Erziehenden, ein Rätsel, an dessen individueller Selbstentfaltung und Lösung die Erziehenden mitwirken dürfen. Dieses Motiv ist deshalb von besonderem Interesse, weil Steiner es in seinem pädagogischen Werk bis an sein Lebensende wieder und wieder mit ähnlichen Formulierungen als Urmotiv aller Erziehung dargestellt hat (3).

 

III. Quellpunkte für das spätere pädagogische Werk

Wie können wir die kurz umschriebenen Ausführungen Steiners aus dem Vortrag von 1904 in sein pädagogisches Werk einordnen? Im Ganzen handelt es sich nur um eine kleine Nebenbetrachtung Steiners im Rahmen von drei Vorträgen aus seiner theosophischen Zeit zur geisteswissenschaftlichen Psychologie und Seelenlehre. Noch hatte Steiner gar nicht die Begriffe entwickelt, die später Grundbegriffe seines pädagogischen Werks wurden wie schon bald die Anschauung von der Entwicklung der vier Wesensglieder des Menschen oder sehr viel später diejenige der differenzierten Dreigliederung des Menschen auf den Ebenen der leiblichen, seelischen und geistigen Organisation. Zwar geht er schon hier 1904 explizit davon aus, dass die Theosophie oder Geisteswissenschaft insbesondere einen «schöpferischen Beitrag» zur Kultur der Erziehung wird leisten können, aber worin so etwas konkreter bestehen könnte, das liegt inhaltlich sowie historisch noch in weiter Ferne. Es sollte bekanntlich erst ab 1919 mit der Begründung einer anthroposophischen Pädagogik in der Waldorfschule konkrete Gestaltungen annehmen.

Obwohl wir so einerseits die behandelte Vortragsstelle als eine interessante Nebensächlichkeit in seinem Gesamtwerk auffassen können, lassen sich zugleich einige Schlussfolgerungen ziehen: Schon früh und vor seiner Schrift zur «Erziehung des Kindes» von 1906 schwebte Steiner eine grosse praktische Aufgabe seiner Geisteswissenschaft für das Erziehungsleben vor. Er sieht diese Frage ganz und gar als eine Frage des Menschen. Von Schule, pädagogischen Programmen oder Erziehungsregeln ist überhaupt nicht die Rede. Erziehende und zu Erziehende werden nicht im Verhältnis von Vater-Sohn oder Mutter-Tochter, sondern explizit im Zeichen der Geschwisterlichkeit wie «Brüder» aufgefasst. Beide sind Gleiche, Menschenindividuen, nur die Konstellation macht sie zu Erziehenden und zu Erziehenden. Steiner geht hier ganz von der Beziehung in der Erziehung aus. Und hierbei kommt es für ihn darauf an, ob Erziehende das Kind, die Schülerin oder den Schüler als dasjenige Individuum, das gerade er oder sie ist, wahrnehmen kann, um förderlich zu seiner Entwicklung beizutragen. Möglich ist das nur, so Steiner, wenn der Erziehende sich selbst so ernst nimmt, dass er von sich Distanz nehmen und sich ausschalten lernt, um nicht seine persönlichen Neigungen am zu Erziehenden auszuleben, sondern sich dem Rätsel der Individualität des «fremden Menschengeistes» in seiner Selbstentfaltung zu widmen.

Hierin können wir erste Quellpunkte der später von Steiner in vielen Schritten entfalteten anthroposophischen Pädagogik erkennen. Bestimmte äussere schulische Formen oder diese oder jene besondere Erziehungsregeln, wie man oft auch heute die Waldorfschulen als Schultyp erfassen und beschreiben will, waren für Steiner immer sekundär. Sein ganzes weiteres pädagogisches Werk bis zu seinen letzten pädagogischen Lehrerkursen folgte dem zutiefst humanistischen Anliegen, wie wir überhaupt die Natur des körperlichen, seelischen und geistigen Wesens der Individualitäten sehen können, mit denen wir es in der Erziehung tagtäglich zu tun haben.

 

 

  1. Kaj Skagen, Anarchist, Individualist, Mystiker. Rudolf Steiners frühe Berliner Jahre 1897–1902, Basel 2020, siehe vor allem S. 17–33.

  2. Rudolf Steiner, Theosophische Seelenlehre III. Seele und Geist, öffentlicher Vortrag, Berlin, 30. März 1904, in: Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung, GA 52, 2. Aufl., Dornach 1986, S. 191–217, darin zum Ideal der Erziehung: S. 213–217. – Die Vortragsstelle ist auch enthalten in: Rudolf Steiner, Quellentexte für die Wissenschaften, Bd. 2, Texte zur Pädagogik. Anthroposophie und Erziehungswissenschaft, hrsg. von Johannes Kiersch, Dornach 2004, S. 152–154. – Bemerkt sei, dass es aus dieser Zeit vor 1906 noch weitere kleine Vortragsstellen Steiners zur Erziehung gibt, von denen allerdings die hier angeführte von der allgemeinsten Bedeutung sein dürfte.

  3. Schon vor der theosophischen Zeit in seiner Darstellung von Jean Paul (1897), vgl. GA 33, S. 300: «Nur dem Erzieher ziemt es wirklich, Idealist zu sein. Er wirkt um so fruchtbarer, je mehr er an das Unbekannte im Menschen glaubt. Ein Rätsel, das zu lösen ist, soll dem Erzieher jeder Zögling sein.» – Später zum Beispiel in einem der Vorträge über «Anlage, Begabung und Erziehung des Menschen» (1911), vgl. GA 69b, S. 128: «Wenn wir den guten Willen und Sinn dafür haben, dann stehen wir dem werdenden Menschen gegenüber wie einem heiligen Rätsel, und das Geheimnis der Erziehung besteht darin, dass er uns, wenn wir ihm mit einem solchen Gefühl gegenübertreten, selbst das Rätsel löst. Er selbst zeigt uns, welche Fähigkeiten aus ihm herausgeholt werden können.»

 

 

 


Cornelius Bohlen • Lehrer für Deutsch und Geschichte, Schulleitung, Atelierschule Zürich.