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Cornelius Bohlen 

 

 

mittelschulstufen:
 lehrerbildung wohin? 

 

 

Die Ausbildung für Lehrpersonen von Mittelschulstufen (10.–12./13. Klasse) an den Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz ist nicht einmal eine Katastrophe. Sie ist auch nicht in einem misslichen Zustand. Sie ist nämlich gar nicht vorhanden. In dieser Situation plant die Atelierschule in Zürich ein neues kleines Seminar für die oberen Schulstufen.

In diesem Beitrag ist nicht die Rede von fachlicher Bildung und allgemeinen pädagogischen Ausbildungen wie Studiengängen zu Lehrdiplomen, die für Lehrpersonen vorauszusetzen sind, sondern von zusätzlichen Ausbildungen und Qualifikationen im Sinne der Waldorf- oder Rudolf-Steiner-Pä-dagogik für die Mittelschulstufe. In der Schweiz gibt es solche Ausbildungsgänge nicht. Gewiss, es gibt diese oder jene wertvolle Weiterbildungen an den Schulen oder vom gesamtschweizerischen Verband der Schulen, die nur zu fördern sind, aber niemals genügen können, um systematische Vertiefungen in die Waldorfpädagogik anzuregen. Daneben existieren entleerte Phrasen wie diejenige von den Konferenzen als laufendes Seminar, die das Absitzen von schuladministrativen Alltäglichkeiten oder die halbverstandene Lektüre von Texten Steiners mit waldorfpädagogischer Weiterbildung verwechseln.

Was sind die Folgen dieser Situation? Die Mittelschulstufen der Schweizer Steinerschulen haben Lehrpersonen, die sich irgendwie selbstständig – mehr oder weniger oder auch gar nicht – in die Waldorfpädagogik einarbeiten, und sind ansonsten darauf angewiesen, dass sich einzelne Lehrpersonen waldorfpädagogische Ausbildungen in Deutschland erwerben, wo es an verschiedenen Standorten Ausbildungen für die obere Schulstufe gibt. Die Suche und Einstellung neuer Lehrper- sonen, die Personalpolitik und die Angebote für nachwachsende Generationen waldorfpädagogisch qualifizierter Lehrpersonen sind unter diesen Umständen prekär, und das nicht nur auf der Mittel- schulstufe. Die Schulen bieten zwar einerseits sehr interessante Schulkulturen und viele freie Gestaltungsspielräume, zeigen aber andererseits auch veraltete Traditionen und wenig Innovationskraft. Zudem bieten sie vergleichsweise tiefe Gehälter und haben wenig Erfahrung sowie Ressourcen, um in der heutigen Zeit attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen. Hinzu kommt, dass die Schrumpfung und Überalterung der allgemeineren anthroposophischen Bewegung den Schulen weniger an einer Lehrerbildung interessierte Personen als früher zuführen. In Hinsicht auf waldorfpädagogische Qualifikationen leben die Schulen von der Hand in den Mund. Die Ausdünnung eines lebendigen Geistes der Waldorfpädagogik ist vorhersehbar. Die Zukunft wird schon verspielt, bevor sie begonnen hat.

 

Waldorfpädagogik – ein individueller Bewusstseinsweg

Eine lebendige waldorfpädagogische Praxis ist keine äusserliche, sondern eine innere Frage. Es geht nicht darum, akademisierte Diplome zu schaffen. Jeder weiss, dass Diplome wenig darüber besagen, ob eine Lehrperson vor den Schülerinnen und Schülern im Unterricht taugt. Der zunehmende Trend der Akademisierung und Spezialisierung von Studiengängen an den heutigen Hochschulen führt zwangsläufig zu einem weiteren Verblassen allgemeinbildender Fähigkeiten. Was nützt ein Germanistik-Studium, wenn eine Lehrperson beispielsweise mit Goethes Faust-Tragödie das reichhaltigste Werk der deutschsprachigen Literatur unterrichten soll, sich aber trotz Absolvierens hochspezialisierter Veranstaltungen an Universitäten noch nie mit Goethe und dem Faust-Stoff gründlicher beschäftigt hat? In einem solchen Fall fehlt jede Fachkenntnis, von einer Verarbeitung des Stoffs für die Allgemeinbildung junger Erwachsener und einer waldorfpädagogischen Methodik ganz zu schweigen. Natürlich lässt sich dies alles frei erarbeiten; aber welche Lehrperson und welche Schule hat bei der täglichen Bewältigung des Unterrichtsbetriebs die nötigen Mittel, die Motivation und Musse dafür? Die Waldorfpädagogik lebt von Lehrpersonen, die sich in sie einarbeiten, sie initiativ gestalten und weiterentwickeln. Sie ist ein freiheitlicher Bewusstseinsweg, der sich aus der von Steiner ausgehenden anthroposophischen Erkenntnis des Menschen speist, um die pädagogische Methodik und Praxis zu inspirieren. Nach mehr als hundert Jahren Waldorfpädagogik liegt ein reicher Erfahrungsschatz mit einer Vielfalt an Formen vor, und es besteht ein unendliches Potenzial für individuelle Praxis, Vertiefung und innovative Weiterentwicklung. Die waldorfpädagogische Methodik kann nur frei von individuellen Lehrpersonen erarbeitet und gelebt werden, sonst handelt es sich um Ideologie und schalen Kollektivismus. Zugleich lauern auf den Wegen der Freiheit viele Gefahren, denn Freiheit wird ständig von Täuschungen umlauert, die persönliche Willkür, Beliebigkeit und Selbstgerechtigkeit eingeben und das Übergehen selbstverständlicher Anforderungen des sozialen Handelns, des pädagogischen Handwerks oder der Wissenschaft zur Folge haben können. Es ist nur ein weitverbreitetes Vorurteil und ein grosser Irrtum, zu glauben, dass es irgendwo «die» Waldorfpädagogik oder «die» Anthroposophie als feststehende Grössen gibt. Zum Glück haben in der Wirklichkeit Waldorfpädagogen oder Anthroposophen oft mehr verschiedene Meinungen und Ideen, als Personen in einer Runde sitzen ...

 

 

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Vorhandene Empfehlungen zur Lehrerbildung

Eine Arbeitsgruppe der Stiftung zur Förderung der Rudolf Steiner Pädagogik in der Schweiz befasste sich unlängst mit der Lage der waldorfpädagogischen Lehrerbildung an den Steinerschulen in der Schweiz. Das Ergebnis mündete in einer Reihe von Förderzielen der Stiftung und Empfehlungen zu- handen der Schulen. Als besonders förderungswürdig wurden erachtet: waldorfpädagogische Weiter- bildungen und Vertiefungskurse an den Schulen oder schulübergreifend; Praxis-Ausbildende an den Schulen zur Betreuung von Studierenden oder zur Einarbeitung neuer Lehrpersonen; Stipendien für Studierende von Ausbildungsgängen; waldorfpädagogische Module oder am besten der Aufbau eines Lehrstuhls für Waldorfpädagogik an einer Pädagogischen Hochschule. Diese langfristigen Förderziele gelten für alle Schulstufen und dürften ganz besonders auf die Mittelschulstufen zutreffen. Die Herausforderungen der gegenwärtigen Lage sind für die Schulen, die Schulbewegung und insbesondere die oberen Schulstufen enorm, da sie hier den Mangel an Ausbildungsgängen kompen- sieren müssen, was für die Schulen als zusätzliches Arbeitsfeld bedeutende zusätzliche Energien und Ressourcen erfordert. Diese Herausforderungen sind aber real vorhanden, wenn die Schulen nicht den Ast absägen wollen, auf dem sie sitzen. Seit den Empfehlungen der Stiftung konnte durch den schweizerischen Verband vor allem die waldorf-pädagogische Einarbeitung neuer Lehrpersonen durch Förderbeiträge an die Praxis-Ausbildenden in den Schulen verstärkt werden.

 

Seminarprojekt der Atelierschule

Als selbstständige Mittelschule von drei Zürcher Steinerschulen in Zürich, Adliswil und Winterthur steht die Atelierschule mitten in der skizzierten Problematik der Lehrerbildung. Die Atelierschule hat auf der Basis ihres Schulkonzepts mit vielen Weiterentwicklungen eine starke Wachstumsphase hinter sich. Sie ist heute mit weit über 300 SchülerInnen in drei- bis vierzügigen Parallelklassen (10.–13. Klasse) wohl international zu einer der grössten waldorfpädagogischen Mittelschulen herangewachsen. Die Frage der Lehrerbildung ist hier im Vergleich mit anderen Schweizer Steinerschulen noch dadurch verschärft, dass die Schule zugleich ein hohes Niveau an Qualifikationen für den Maturitätsabschluss und die weiteren Schulabschlüsse wie für die Waldorfpädagogik gewährleisten will. Das Kollegium hat ein reiches Spektrum von Lehrpersonen in allen grösseren Fachbereichen und – neben erfahrenen Lehrpersonen der Waldorfpädagogik aus der älteren Generation – viele jüngere Lehrpersonen, EinsteigerInnen aus anderen Schulen und Teilzeitstellen mit Lehrpersonen, die an mehreren Schulen unterschiedlichen Profils unterrichten. Die waldorfpädagogischen Qualifikationen reichen von vollständigen Ausbil- dungsgängen, die meist in Deutschland absolviert wurden, über langjährig selbst erarbeitete Kom- petenzen bis zu Unkenntnis, fehlender Auseinandersetzung und blosser Sympathie mit einzelnen Elementen des besonderen Schulkonzepts.

In den letzten Jahren praktizierte die Schule verschiedene Formen von waldorfpädagogischen Wei- terbildungen: jährlich seminaristische Kurse im Kollegium, Tagungen mit Dozent:innen von aussen, ein Jahreskurs über Grundlagen der Waldorfpädagogik in Blöcken mit namhaften Dozent:innen und ein kontinuierlich laufendes Coaching zur Waldorfpädagogik für interessierte neue und bestehende Lehrpersonen.

Nun projektiert die Atelierschule als neue Einrichtung ein kleines Seminar für Lehrpersonen der Sekundarstufe II und in Kooperation mit der Rudolf Steiner Schule Zürich am Standort für die Sekundarstufe I, das allen Interessierten offensteht. Bewusst wird das Seminar von der oberen Schul- stufe ausgehen und thematisch das Verständnis des Jugendalters aus anthroposophischer Sicht im Mittelpunkt stehen. Im Geiste der Freiheit und der Maxime, dass alle Erziehung Selbsterziehung des Menschen ist, möchte das Seminar individualisierte und gemeinschaftliche Wege zum Kennenlernen, Vertiefen, Erforschen und Weiterentwickeln waldorfpädagogischer Grundlagen und Praxis entwickeln und anbieten, die möglichst an unterschiedliche Voraussetzungen, Ausrichtungen, lebendige Interessen und individuelle Impulse von Lehrpersonen anknüpfen. Noch steckt das Projekt in den spannenden, ersten Kinderschuhen. Für das Schuljahr 2022/23 ist die Eröffnung und ein vorbereitendes Jahr mit ersten Weiterbildungsangeboten geplant. Für das Schuljahr 2023/24 wird der Beginn eines eineinhalbjährigen, berufsbegleitenden Ausbildungsgangs geprüft, dessen Konzept, Curriculum und Methodik von einer Projektgruppe bereits entworfen wurde und der für interessierte Lehrpersonen zu einer waldorfpädagogischen Zusatzqualifikation führen soll.

 

 


Aus: Schulkreis. Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, Frühjahr 2022, S. 56–59.


Cornelius Bohlen • Schulleitung und Lehrer für Deutsch und Geschichte, Atelierschule Zürich. Präsidium Stiftung Rudolf Steiner Nachlassverwaltung.